Am 8. Dezember 2022 hat der Rat der EU eine Empfehlung zur Strategie zur Langzeitpflege angenommen. Gleichzeitig wurden die Barcelona-Ziele zur frühkindlichen Betreuung angepasst. Da die EU auf dem Gebiet der Pflege vor allem politische Initiativen ergreifen kann, statt gesetzgeberische Vorgaben zu machen, nutzt sie hier eine Ratsempfehlung. Damit verpflichten sich alle Mitgliedstaaten politisch zu gemeinsamen Standards in der Pflege und in der frühkindlichen Betreuung.
Die EU-Pflegestrategie enthält Leitlinien für die Ausrichtung von Reformen, um die gemeinsamen Herausforderungen in Bezug auf Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit, Qualität und Pflegekräfte in Zeiten des Arbeitskräftemangels anzugehen. Vor allem der Zugang zu hochwertiger und erschwinglicher Pflege und Betreuung in allen Lebensphasen soll eröffnet sein.
Problematisiert wird die deutlich steigende Nachfrage nach Pflege bei abnehmender Zahl an Pflegekräften, sei es aus demografischer oder sei es aus der Situation, dass andere Branchen attraktivere Arbeitsbedingungen bieten und zur Abwanderung führen. Hinzu kommt, dass die in der Vergangenheit einen großen Anteil an häuslicher Pflege ausmachende Familienpflege wegen schlechter finanzieller Absicherung der häufig weiblichen pflegenden Angehörigen nicht mehr machbar ist.
Dennoch liegt der Anteil informell pflegender Angehöriger bei 80 Prozent der in der Langzeitpflege aktiven Pflegekräfte innerhalb der EU. Sie stehen dem Arbeitsmarkt zumindest nicht in Vollzeit zur Verfügung. Ebenso sinkt die Quote der in der Pflege formell Beschäftigten ab. Es müssen mehr Maßnahmen zur Unterstützung und Entlastung der informell Pflegenden ergriffen werden.
Problematisiert wird in der EU-Pflegestrategie auch die arbeitsrechtliche Situation für Arbeitskräfte in der 24-Stunden-Pflege:
„Eine weitere Herausforderung besteht darin, die besondere Situation von im Haushalt lebenden Pflegekräften anzugehen, bei denen es sich meist um mobile - oder Wander-Arbeitskräfte handelt, die besonders schutzbedürftig sind. Vor allem wenn sie einer nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit nachgehen. Sie verdienen bisweilen sehr wenig, und ihre Arbeitszeitenregelungen, einschließlich angemessener Ruhezeiten und anderer Arbeitsbedingungen, sind nicht immer klar definiert und manchmal mit dem Arbeitsrecht nicht vereinbar.“
Dabei stellt sich der Bedarf an Pflege nach Erkenntnissen der Kommission so dar:
„Aller Voraussicht nach wird die Zahl der Langzeitpflegebedürftigen in der EU von rund 30,8 Millionen im Jahr 2019 auf 33,7 Millionen im Jahr 2030 und 38,1 Millionen im Jahr 2050 steigen; das entspricht einem Anstieg um insgesamt 23,5 Prozent.“
Ein eng damit zusammenhängender Punkt ist die Bezahlbarkeit und die mit der Bedeutung der Pflege in den Systemen des Sozialschutzes verknüpfte mangelnde gesellschaftliche Anerkennung derselben.
Die EU-Pflegestrategie will deshalb für den hohen gesellschaftlichen Wert und das wirtschaftliche Potenzial von Care-Arbeit sensibilisieren. Meistens macht der Anteil der Pflege in den Sozialversicherungen nur einen kleinen Teil aus – wenn überhaupt. Die Kommission mahnt daher auch eine spürbare Reform an. Altersarmut als Folge der schlechten, finanziellen Abfederung der Pflegeleistungen ist die Realität.
Die Finanzierbarkeit der Langzeitpflege gemessen am BIP bewegte sich 2019 bei 1,7 Prozent des BIP und wird 2050 voraussichtliche bei 2,5 Prozent liegen. Die genauen Zahlen des Finanzbedarfs aus den öffentlichen Haushalten der Mitgliedstaaten finden sich in diesem Bericht aus 2021, für Deutschland auf S. 290:
Europäische Kommission und Ausschuss für Wirtschaftspolitik, The 2021 Ageing Report – Economic and Budgetary Projections for the EU Member States (2019–2070), Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg, 2021. S. 4, Fn 11.
Zur Verbesserung der finanziellen Tragfähigkeit werden diese Vorschläge gemacht:
- „Sicherstellung der Kosteneffizienz etwa durch einen kohärenten und integrierten Governance-Rahmen, die Förderung von eigenständiger Lebensführung und eine bessere Ausrichtung der Langzeitpflege auf individuelle Bedürfnisse, sodass beispielsweise Menschen mit geringerem Pflegebedarf nicht unnötigerweise in teureren Intensivpflegeeinrichtungen betreut werden.
- Darüber hinaus sind ehrgeizigere Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention vonnöten, um die psychische und körperliche Gesundheit der Menschen zu erhalten, die Leistungsfähigkeit der Arbeitskräfte sicherzustellen und die Nachhaltigkeit und Krisenfestigkeit der Gesundheitssysteme zu garantieren.
- Es bedarf einer soliden Governance, um den gezielten Einsatz der verfügbaren Ressourcen sicherzustellen, etwa durch Datenerhebungen, eine Bestandsaufnahme der bestehenden Infrastrukturen und Dienste, eine Einschätzung des individuellen Bedarfs und eine Lückenanalyse, und zwar unter Berücksichtigung regionaler Ungleichheiten und demografischer Herausforderungen.“, S. 4
Bei der Zugänglichkeit wird hervorgehoben, dass insbesondere gemeindenahe Pflege nicht in allen Mitgliedstaaten angeboten wird, sondern informelle und stationäre Pflege vorherrschen, wobei insbesondere von Armut betroffene Menschen stationär gepflegt werden. Deshalb fordert die EU-Pflegestrategie den Ausbau und die Ausweitung der Angebote für Langzeitpflege, insbesondere für die häusliche und gemeindenahe Pflege.
Qualitätsstandards beziehen sich häufig nur auf Ernährung und Hygiene, nicht auf Wohlergehen und Lebensqualität. Geschweige denn existieren in den Mitgliedstaaten durchgehend geeignete Qualitätssicherungsmechanismen.