Dr. Peter Bartmann berichtet von einer Studienreise der Diakonie Deutschland im August 2022. Im Fokus standen Nachbarschaftskonzepte und sozialraumorientierte Angebote zur Unterstützung, Betreuung und Pflege in den Niederlanden.
Buurtzorg & Co.
Buurtzorg ist der größte Anbieter ambulanter Pflege in den Niederlanden, der - 2006 mit einem neuen Geschäftsmodell gegründet - heute über zehntausend Pflegekräfte beschäftigt. Kern des Geschäftsmodells sind Teams von zehn bis zwölf Pflegekräften, die in Sozialräumen von 5.000 bis 10.000 Einwohner:innen tätig sind. Kurze Wege, persönliche Bekanntheit vor Ort, lokale Vernetzung mit anderen Akteuren und ein hohes Maß an Selbststeuerung im Team sind die Leitideen, die bei professionellen Pflegenden weit über die Niederlande hinaus auf Begeisterung stoßen.
Nach der Buurtzorg-Philosophie (buurt zorg dt. Nachbarschaftspflege) gestalten Pflegekräfte die Pflegeprozesse selbst: Sie klären mit den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen wie viel Unterstützung erforderlich, was Familie und Umfeld selbst leisten können und wo die professionelle Pflege notwendig ist.
Der typische Auslöser für die pflegerische Unterstützung ist der Krankenhausaufenthalt oder seltener die Diagnose eines niedergelassenen Arztes. Kostenträger der ambulanten Pflege in den Niederlanden sind zum größeren Teil die vier großen Krankenversicherungen, die als Privatunternehmen in einem gesetzlich geregelten Markt tätig sind – zum kleineren Teil die staatliche und restriktivere Langzeitpflegeversicherung.
Mit den Krankenversicherungsunternehmen konnte buurtzorg eine klientenbezogene Zeitvergütung und eine stichprobenartig geprüfte Pflegedokumentation aushandeln, die die Aufsplitterung der Leistungen und Abrechnungsvorgänge ersetzt.
Dreijährig qualifizierte Assistenzkräfte, vierjährig qualifizierte Pflegefachkräfte sowie Pflege-Bachelor übernehmen – bei unterschiedlicher tariflicher Vergütung – klientenbezogen sehr ähnliche Aufgaben, die im Team verteilt werden. Die dezentralen Teams arbeiten alle in derselben IT-Infrastruktur, die Pflegediagnosen, Pflegedokumentation, Leistungs- und Gehaltsabrechnung automatisiert und von einer sehr kleinen zentralen Organisation gestaltet wird. Diese in Amelo angesiedelte Organisation versteht sich einerseits als „Back office“ für die Teams vor Ort, andererseits ist es Ausdruck direkter Führung durch den Gründer Jos de Blok.
In einem intensiven Tagesseminar gab die Leitung von buurtzorg der Diakonie-Exkursionsgruppe tiefe Einblicke in ihre Geschäftsphilosophie und die schlanken Geschäftsstrukturen und -prozesse: Die kleinen Teams in einem begrenzten Sozialraum konzentrieren sich auf ambulante Pflegeprozesse. Zugleich erkunden und aktivieren sie das Potential des Sozialraums, beziehen nachbarschaftliches Engagement, die gegenseitige Unterstützung und das soziale Miteinander ein.
Die Konzentration auf die Zeit bei den Klient:innen sind nicht nur fachliche Pflege in lebensweltlichen Bezügen, sondern auch ein ökonomischer Rahmen hoher wirtschaftlicher Effizienz. Die große Mehrheit der buurtzorg-Beschäftigten arbeiten in Teilzeit und / oder in geteilten Diensten.
Von der erfolgreichen Sozialraumorientierung von buurtzorg konnte sich die Exkursionsgruppe an anderem Ort, bei einem sozialen Begegnungszentrum in Vries bei Groningen überzeugen: Dort waren die Pflegekräfte nicht nur persönlich bekannt, sondern sorgten auch dafür, dass Klient:innen den Weg ins Begegnungszentrum fanden.
Die ökonomische Seite, auch die Übertragbarkeit eines solchen Modells nach Deutschland wurde im Gespräch mit den buurtzorg-Verantwortlichen gründlich diskutiert: Eine Frage galt der Übertragbarkeit der Prinzipien in bestehende Organisationen, eine andere der Konzentration auf den Kernprozess der ambulanten Pflege – und viele weitere Fragen der Arbeitsorganisation, Entlohnung, Zufriedenheit der Mitarbeitenden – und dem Umgang mit dem auch in den Niederlanden deutlich spürbaren Mangel an Pflegefachkräften.
Die Professionalität der Präsentationen wie auch die Offenheit bei der Beantwortung kritischer Fragen beeindruckte die Exkursionsgruppe – und so wurde vereinbart, tiefer ins Gespräch mit denjenigen einzutreten, die buurtzorg nach Deutschland holen wollen bzw. aktuell vor großen - auch wirtschaftlichen - Herausforderungen der Umsetzung